Angenommen, ab morgen wäre es eine freiwillige Leistung Steuern zu zahlen. Niemand würde kontrollieren, ob wir es getan haben oder nicht und uns würden weder zwischenmenschliche noch juristische Sanktionen drohen, wenn wir uns bewusst dagegen entschieden haben. Würden Sie Steuern bezahlen? Diese Frage habe ich einem Fernsehjournalisten gestellt, der befand wie unmoralisch es sei, dass ein auch durch deutsche Konsumenten und Konsumentinnen gut verdienender Konzern wie Apple bei uns keine Steuern abführt. Seine Antwort lautete: „Ja, selbstverständlich würde ich auch dann Steuern zahlen. Schließlich will ich, dass es weiterhin Kitas gibt.“ Diese Antwort klingt verantwortungsbewusst und deshalb gut. Leider hat sie nichts mit der Realität zu tun.
Die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling setzt sich in ihrer Studie Politisches Framing – wie eine Nation sich ihr Denken einredet und daraus Politik macht damit auseinander, wie wir durch den Gebrauch von Worten manipuliert werden. Wehling definiert einen Frame als gedanklichen Deutungsrahmen, der durch Sprache im Gehirn aktiviert wird. Frames seien es, „(…) die Fakten erst eine Bedeutung verleihen, und zwar, indem sie Informationen im Verhältnis zu unseren körperlichen Erfahrungen und unserem abgespeicherten Wissen über die Welt einordnen. Dabei sind Frames immer selektiv. Sie heben bestimmte Fakten und Realitäten hervor und lassen andere unter den Tisch fallen. Frames bewerten und interpretieren also. Und sind sie erst einmal über Sprache – etwa jener in öffentlichen Debatten – in unseren Köpfen aktiviert, so leiten sie unser Denken und Handeln an, und zwar ohne dass wir es merkten.“ Ein solcher Frame sind Begriffe wie „Steuerschlupfloch“ oder „Steuerehrlichkeit“. Hier wird ein abstraktes politisches Instrument, die Steuer, an eine moralische Verpflichtung gegenüber einer Gemeinschaft oder einen Wert gekoppelt. Dass diese Strategie, uns zu bekennenden Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern zu erziehen sehr gut funktioniert, beweist die Antwort des Fernsehjournalisten.
Compliance wurde geradezu erfunden, weil wir uns nicht darauf verlassen wollen und wie die Vergangenheit vielfach gezeigt hat, auch nicht darauf verlassen können, dass die moralische Integrität eines Menschen in jeder Situation greift. Compliance ist insofern auch das institutionalisierte Unbehagen an der Moral. Justitiable Regeln haben gegenüber dem unwägbaren Feld der Moral klare Vorteile: Wer sich strafbar macht, spürt den heißen Atem der Jurisprudenz. Auch bei Steuerzahlungen handelt es sich nicht um eine moralische Verpflichtung, sondern um geltendes Recht, dem wir uns als Privatpersonen nicht entziehen können, ohne strafrechtlich relevante Konsequenzen tragen zu müssen. Ein Konzern wie Apple handelt dagegen legal wenn er keine Steuern abführt, da er bei uns durch kein Gesetz dazu verpflichtet ist. Solange die Steuergesetzgebung nicht weltweit angepasst wird, behandeln Konzerne wie Apple Steuern als Kosten und tun das, was jedes Unternehmen tun würde. Sie vermeiden Kosten.
Selten wird die Grenze zwischen Legalität und Moralität deutlicher als in diesem Kontext. Wir können uns über Konzerne wie Apple moralisch echauffieren. Nützen wird uns das allerdings nichts, weil nicht damit zu rechnen ist, dass Unternehmen freiwillig Steuern zahlen. Interessanterweise orientiert sich auch das Käuferverhalten in erster Linie an Qualität: Die Schlangen vor den Apple Stores sind nicht kürzer geworden seit wir wissen, dass wir auf die Steuereinnahmen verzichten müssen. Mit Druck durch die Verbraucherinnen und Verbraucher ist also nicht zu rechnen. Diese Fakten sind den politischen Entscheidern bekannt. Stellt sich die Frage, warum dennoch seitens der Politik fleißig die Moraldebatte angeheizt wird, statt konkrete Maßnahmen zur Novellierung unserer Steuergesetzgebung auf den Weg zu bringen. Kann es sein, dass Moral auch hier als Vermeidungsstrategie wirkt, als reines Mittel zur Beruhigung der Wählerseele, als Ablenkungsmanöver, um sich nicht mit den tatsächlichen Fragestellungen auseinandersetzen und konkrete Taten folgen lassen zu müssen?
Wer glaubt, dass die Welt alleine dadurch besser wird, dass wir Steuern zahlen, der bewegt sich auf dünnem Eis an der Grenze zur Naivität. Das belegt schon die Existenz einer Behörde wie dem Bundesrechnungshof und zusätzlichen Landesrechnungshöfen, die eine unabhängige, selbstständige und weisungsfreie externe Finanzkontrolle von Bund und Ländern darstellen müssen und dem Vernehmen nach, alle Hände voll zu tun haben. Die von den Rechnungshöfen regelmäßig herausgegebenen Schwarzbücher belegen, dass Milliarden von Steuergeldern verschleudert werden statt sie einem sinnvollen Zweck zuzuführen, der unserer Gemeinschaft zugutekommt. Ob die freiwillig bezahlten Steuern des Fernsehjournalisten also tatsächlich für Kitas verwendet werden, ist demnach alles andere als sicher.