Mit dem Lieferkettengesetz soll, was nicht ungewöhnlich ist, Moral in Gesetzesform gegossen werden. Gesetze institutionalisieren Moral nicht nur, sondern sorgen auch dafür, dass Sanktionen bei Nichteinhaltung der festgeschriebenen Regeln verhängt werden können. Damit dieser Mechanismus seinen Sinn erfüllt, muss beim Regelungsgegenstand ein erwünschtes Verhalten gegeben sein, das erstens überprüfbar und zweitens sanktionsfähig ist. Darüber hinaus muss eine Gesetzesfolgenabschätzung vorgenommen werden, um auszuschließen, dass nicht mehr Schaden angerichtet als Nutzen gestiftet wird. Das Lieferkettengesetz erfüllt keine der genannten drei Prämissen.
Negative soziale Effekte und keine Änderung des Kaufverhaltens
Vielmehr wird es dazu führen, dass sich in Deutschland die Schere zwischen arm und reich weiter öffnet, da es bei deutschen Unternehmen zwangsläufig die Produkte verteuern wird. Dadurch wird das Erlebnis für Geringverdienende, sich beim Einkauf etwas leisten zu können, in noch weitere Ferne rücken. Insbesondere vor dem Hintergrund der noch nicht abschließend zu bewertenden wirtschaftlichen Konsequenzen der Corona-Pandemie, können wir uns soziale Negativeffekte, die in keinem Verhältnis zum zu erwartenden Nutzen stehen, nicht leisten. Zusätzlicher unerwünschter Effekt: Wer regelmäßig bei den Konzernen einkauft, bei denen das Lieferkettengesetz Anwendung finden soll, wird das weiterhin und dann vollkommen frei von schlechtem Gewissen tun – weil es ja das Lieferkettengesetz gibt.
Zeichen von Arroganz und Ignoranz
Das Lieferkettengesetz ist dazu angetan, den Differenzbegriff in der Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann ad absurdum zu führen indem es die Unterschiede zwischen unserem System und anderen Systemen ignoriert. Stattdessen verlangen die Befürworter des Lieferkettengesetzes, dass sich deutsche Unternehmen bezogen auf ihre Lieferketten dazu verpflichten, unsere moralischen Standards unterschiedslos in allen Ländern der Welt bis zum letzten Glied einzuhalten. Damit deklarieren wir „unser Gut“ zum „Gut für alle“, was beispielsweise für eine Frau, die in prekären Verhältnissen in einem Land wie Äthiopien oder Pakistan ihre Kinder ernähren muss, existenzbedrohliche Folgen hat. Seriöse Studien, u.a. durchgeführt am Zentrum für Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit (CCRS) der Universität Zürich, belegen, dass eine Bekleidungsfabrik in diesen Ländern vielfach die einzige Möglichkeit, insbesondere für Frauen ist, Geld zu verdienen und selbstbestimmt zu leben. Im Ergebnis führt „unser Gut“ am anderen Ende der Welt zu Ausgrenzung, Ungerechtigkeit und Armut.
Zahnloser Tiger
Wenn das Lieferkettengesetz kommt, und danach sieht alles aus, werden deutsche Unternehmen, die im Ausland produzieren, eine Verpflichtungserklärung als Bestandteil ihres Nachhaltigkeitsberichts unterschreiben. Die konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Menschen in einem anderen Land oder auf einem anderen Kontinent werden sich dadurch nicht automatisch zum Besseren ändern. Abgesehen davon, dass ein deutsches Unternehmen schwerlich in der Lage sein wird, in Pakistan oder Brasilien bis ins letzte Glied der Lieferkette die Einhaltung der deutschen Standards zu kontrollieren, haben wir mit diesem Gesetz keinerlei Durchgriffsrechte auf geltendes nationales Recht.
Besser: Chancengleichheit fördern
Es könnte sich hier im Vorfeld anstehender Wahlen um eine reine Marketingstrategie der politischen Entscheider handeln. Dafür spricht, dass der Widerstand der Industrie gegen das Lieferkettengesetz verhältnismäßig moderat ist. Das Gesetz wäre ein Deal, mit dem alle Beteiligten gut leben können und der dem Wunsch nach mehr Moral in der Lieferkette entgegenkommt – auf Kosten derjenigen, deren Lebensumstände eigentlich verbessert werden sollten. Deutlich sinnvoller wären Programme vor Ort, mit denen Bildung und damit mehr Chancengleichheit im internationalen Wettbewerb gefördert wird.