Nach derzeit vorherrschendem Verständnis ist Arbeit in erster Linie das, was man messen kann: Wir messen das Maß an Verantwortung für Mitarbeiter*innen, die jemand trägt, übersetzen es in Ansprüche, in Geld und hierarchisch organisierte Funktionen. Wir haben die 38-Stunden-Woche, addieren bei „Vertrauensarbeitszeit“ gegebenenfalls die erwarteten Überstunden und taxieren auf dieser Basis das Gehalt. Wir messen den Erfolg und zahlen entsprechende Boni. Wir trennen nach Arbeits- und Freizeit. Wenn wir gebeten werden, uns als Person zu beschreiben, stellen wir die Gegenfrage: Beruflich oder privat? Was wir mit alldem versuchen ist vor allem eins: die Kontrolle zu behalten.
Dasselbe Ziel verfolgen wir mit unseren Compliance-Systemen: Wir wollen sicher sein können, dass es keine Korruption in unseren Unternehmen gibt, dass alle Mitarbeiter*innen sich an die gesetzten Regeln halten – ohne diese zu hinterfragen. Damit lagern wir das eigenständige Abwägen und damit die Übernahme von Verantwortung in Compliance-Systeme aus und dokumentieren, dass wir uns auf Eigenverantwortlichkeit, auf sich selbst organisierende Systeme nicht verlassen wollen. Wir reden zwar über Digitalisierung und digitale Transformation, bleiben aber was Moral angeht, lieber beim Gatekeeper-Modell: Wir ordnen uns unreflektiert dem alten Schema unter, in dem eine Person bzw. ein Regelsystem von oben sagt wo es lang geht.
Regeln in unserem Compliance-System zeigen eindeutig zuordenbar auf das dazu passende Verhalten und es gibt bezogen auf das, was von Mitarbeiter*innen erwartet wird, keinen Interpretationsspielraum. In diesem Kontext habe ich als Mitarbeiter*in dann Verantwortung übernommen, wenn ich regelkonform agiert habe und war verantwortungslos wenn ich mich nicht an die Regel gehalten habe. Nicht nur weil wir damit einen Wert wie Verantwortung entwerten und zur Regelkonformität degradieren, stellt sich die Frage, ob wir Compliance im Zeitalter neuer Technologien und neuer Arbeitsformen nicht auf den Prüfstand stellen müssen.
Wir haben Angst vor Kontrollverlust, propagieren aber agiles Arbeiten
Wir messen, wir kontrollieren und wir sagen der einzelnen Person u.a. mit dem Compliance-Regelwerk genau, was sie zu tun und zu lassen hat. Gleichzeitig richten wir flexible Arbeitsplätze, so genannte Workspaces ein, ermöglichen Arbeitsplätze außerhalb des Unternehmens und arbeiten daran, moderne Managementmethoden wie agiles Arbeiten einzuführen. Agiles Arbeiten, also das Arbeiten in Projekten, in Teams und das eigenverantwortlich im Sinne einer Selbstorganisation, ist ein Reflex auf den Netzwerkgedanken, den uns neue Technologien eröffnet haben und ein diametraler Gegensatz zu herrschenden Compliance-Systemen. Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Eva Horn weist in der Einleitung ihrer Studie Schwärme – Kollektive ohne Zentrum darauf hin, dass Schwärme als „Organisationsformen mit größeren Freiheitsgraden“ funktionieren, die damit „im Denken kreativer und schneller“ sind. „Die Logik des Schwarms“, so Horn, „ist eine Logik der Selbstorganisation und der Selbststeuerung. Sie impliziert damit andere Begriffe der Einheit, andere Formen der Kohäsion, andere Modi der Kontrolle und andere Formen der Teleologie.“
Durch agiles Arbeiten erfolgt eine Verlagerung der Verantwortung auf Teams. Damit das funktioniert, braucht es eine Fehlerkultur, die Fähigkeit loslassen zu können, die Bereitschaft nicht alles kontrollieren zu wollen, Verantwortung zu übertragen und Vertrauen zu schenken. Agiles Arbeiten kann nicht verordnet, es muss gelebt werden und das im gesamten Unternehmen.
Wir brauchen ein agiles Compliance-System
Vielleicht müssen wir bevor wir moderne Managementformate tatsächlich umsetzen können, ein Denken lernen, das mit Störungen umgehen kann, statt Störungen zu vermeiden und Veränderung als Zumutung zu empfinden. Eine Entscheidungssituation ist, insbesondere dann wenn es um Compliance-relevante Themen geht, immer das Ergebnis einer Störung. Autonomiefrei auf der Basis von Regelwerken zu handeln, ja zu funktionieren befreit uns davon, selbst zu denken, befreit uns davon dass wir uns fragen müssen „Was soll ich tun?“.
Es sieht so aus, als bräuchten wir analog zu Arbeiten 4.0 auch Compliance 4.0; eine Compliance, die nicht nur stärker auf Eigenverantwortlichkeit und auf die selbstregulierende Kraft von Netzwerken setzt, statt von oben zu diktieren, was zu tun ist. Statt eines statischen Compliance-Handbuchs könnten wir darüber hinaus vermehrt Compliance-Systeme aufsetzen, die wir unter Einbeziehung aller handelnder Personen an der lebenden Organisation permanent messen, kritisch hinterfragen und weiterentwickeln.